Kleine Staatsbibliothek weicht Kulturklotz

Kleine Staatsbibliothek weicht Kulturklotz

In Berlin-Tempelhof wird momentan die restlose Zerstörung eines Ensembles der 1960er und -70er Jahre vorbereitet: Im Rahmen des Projektes „Neue Mitte Tempelhof“ soll das 1969 von Willy Kreuer entworfene Gebäude der Bezirksverordnetenversammlung abgerissen werden. Außerdem müssen die Bezirkszentralbibliothek und die mit dieser baulich verbundene Polizeistation (1975-1978, Architekt: Bodo Fleischer) sowie das Stadtbad Tempelhof (1961-1963) Platz für die Neuplanungen der Büros „Teleinternetcafé“ und „Treibhaus Landschaftsarchitektur“ machen. Der städtebauliche Entwurf dieser beiden Büros ging im letzten Jahr siegreich aus einem Werkstattverfahren hervor.

Nun stellt sich die Frage, wie zeitgemäß es ist, ausgerechnet jenen Entwurf zum Sieger zu küren, der keinerlei Bausubstanz erhalten will und sich trotzdem der Nachhaltigkeit rühmt. Immerhin entspringen 11% der weltweiten CO²-Emmissionen der Bauwirtschaft. Doch noch viel unmittelbarer sichtbar als die Konsequenzen des Verschwendens grauer Energie wird der Effekt sein, den der Abriss dieser Bauten auf Tempelhof hat: Der gewichtigste Teil der gebauten Nachkriegsgeschichte im vormaligen Bezirkszentrum verschwindet. Alle genannten Bauten entspringen einem städtebaulichen Konzept von 1964. Der Gesamtentwurf ist geradezu mustergültig für das Konzept der aufgelockerten und durchgrünten Stadt. Landschaftlich angeordnete, abwechslungsreich geformte Baukörper inmitten weitläufiger Grünanlagen entstanden.

Städtebauliches Konzept für das Tempelhofer Zentrum, 1964 (Plan: Bezirksamt Tempelhof)

Zu nennen ist hier insbesondere der abgestufte und aus einem Sechseck heraus konstruierte Baukörper der Bibliothek. Das inmitten des Parks befindliche Gebäude verfügt sogar über einen mit Rosen bepflanzten Lesegarten. Durch die terrassierte und von Höhenversprüngen geprägte Kubatur schmiegt sich die Bibliothek perfekt an den reliefreichen Franckepark an. Keinesfalls versucht Bodo Fleischer mit seinem Bau die Parkanlage zu dominieren. War er doch ein Schüler von Hans Scharoun, dem Großmeister des Gebäude-in-die-Landschaft-Setzens, der bei seinen Wohnbauten in Charlottenburg-Nord Straßenverläufe ignorierte und damit die Idee einer Blockrandbildung in höchstmöglichem Maße konterkarierte. Neben der äußerlichen Erscheinung beeinflusste vor allem das terrassierte Innenleben der Bezirkszentralbibliothek „Eva-Maria-Buch-Haus“ ihren Spitznamen „Kleine Staatsbibliothek“ – ein erneuter Hinweis auf Fleischers Vorbild Hans Scharoun.

Aus einem Guss mit der Bibliothek entstand auch die Polizeiwache, deren Gebäude ursprünglich auch das Tempelhofer Bürgeramt aufnahm und eine der zentralen Gefangenensammelstellen West-Berlins war. Dieser Gebäudeteil orientiert sich mit dem „Besuchereingang“ zur Götzstraße hin und leitet den landschaftlichen Baukörper der Bibliothek aus dem Park kommend über in die strenge Blockrandbebauung der Gründerzeit. Das zur Adressbildung höher ausgebildete Eckgebäude weist wie auch der Kern des Bibliotheksbaus einen sechseckigem Grundriss auf.

Ein weiterer Höhepunkt des städtebaulichen Entwurfes für den Tempelhofer Rathausblock war ein 1968 errichtetes und 1986 aufgelöstes Franziskanerkloster samt dazugehöriger Kirche St. Johannes Capistran sowie einem Studierendenwohnheim. Dieser Komplex wurde schon 2005 trotz eindeutig festgestelltem Denkmalwert restlos abgerissen, nun scheint es den übrigen Gebäuden genauso zu ergehen.

Ersetzt werden sollen die bislang verbliebenen Gebäude unter anderem durch einen mehr als wuchtigen und dreizehn Vollgeschosse umfassenden Turm („Kulturbaustein“) am Tempelhofer Damm, der den unmittelbar nebenan stehenden Rathausturm deutlich überragen wird. Möglich ist dies auch, weil das Tempelhofer Rathaus – 1938 gleichzeitig mit dem Flughafen Tempelhof errichtet und in der Formensprache der nationalsozialistischen Idee eines Gauforums verpflichtet – nicht unter Denkmalschutz steht.

Der in den bislang vorliegenden Entwürfen unpassend in die Höhe ragende und keinesfalls zum baulichen Charakter Tempelhofs passende „Kulturbaustein“ soll möglichst alle Nutzungen aufnehmen, die sich unter dem Begriff Kultur subsumieren lassen: Musik- und Volkshochschule, Bibliothek und vieles mehr.

Der Entwurf für den sogenannten „Kulturbaustein“ (Visualisierung: Teleinternetcafé/Jonas Bloch)

Da der von Willy Kreuer angefügte Sitzungssaal der Bezirksverordnetenversammlung abgerissen statt umgenutzt wird, sieht der Entwurf noch ein zweites Punkthochhaus für die Bezirksverwaltung vor. Ein Glaskubus soll den flachen Anbau mit seinen großen Räumen ersetzten, der quasi die bauliche Demokratisierung eines auf das Führerprinzip ausgelegten Rathauses leistete. Der Neubau soll zwar nur acht Vollgeschosse hoch werden, dafür aber deutlich nach hinten in die Grünanlage des Gartendenkmals Franckepark rücken. Jenseits des Effekts auf die Grünanlage stellt sich die Frage, ob so ein einzeln und ohne bauliche Verbindung zum eigentlichen Rathaus stehender Solitär sinnvoll zu bewirtschaften ist.

Hallenbad und Polizeistation sollen in der Nähe ihrer bisherigen Standorte neu entstehen, gefasst in einer zackenartig den Park umfassenden Blockrandstruktur. Die gestalterische Kraft der Bestandssolitäre geht also dauerhaft verloren. Bleibt nurmehr die Hoffnung, dass sich der überwiegend dem Wohnen dienende Blockrand hier schlussendlich nicht als ähnlich stillos erweist wie beispielsweise die derzeit in der „Schöneberger Linse“ entstehenden Bauten.

In einer mittlerweile drei Jahre alten Machbarkeitsstudie zur „Neuen Mitte Tempelhof“ ist davon die Rede, dass man die „flächenintensive Bebauung aus der Planungsepoche der Nachkriegsära neu bewerten“ müsse. Vielleicht ist es nun einmal an der Zeit, zu lernen, aus eben dieser Ära Schlussfolgerungen zu ziehen und sie weiterzudenken; mit den Gebäuden, die sie hervorbrachte, zu arbeiten. Sie respektvoll zu erweitern, umzunutzen. Denn die momentan vorgesehene und keinesfalls nur hier praktizierte totale Abrisspolitik ist keine Lösung. Die Ablesbarkeit der Geschichte unserer Stadt wird immensen Schaden nehmen. Nur weil es für Planer:innen und Politiker:innen momentan einfacher aussieht, scheinbar von aller Last der jüngeren Geschichte befreite Baufelder zu schaffen. Wie schon in der Nachkriegsära erprobt.

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